Das Bundesverkehrsministerium hatte sich das Ziel gesteckt, die Anzahl der Verkehrsunfalltoten vom Vergleichsjahr 2010 bis zum Zieljahr 2020 um 40 Prozent zu senken. Schon jetzt steht fest, dass dieses Ziel verfehlt wird. Dies hat laut Professor Dieter Müller, der durch einen Vertreter des Deutschen Verkehrssicherheitsrats interviewt wurde, folgende Gründe:
Normen und Gesetze sind nicht auf der Höhe der Zeit: Der technische Fortschritt und das Verkehrsverhalten der Menschen ändern sich schneller als Gesetze dies normativ fassen können. Als Beispiel ist hier die antiquierte Norm des sog. Handy-Paragrafen 23 Absatz 1a Straßenverkehrsordnung (StVO) zu nennen.
Regeln und Normen sind häufig unverständlich und/oder werden nur unzureichend kommuniziert: Als Beispiel ist hier die missglückte situative Winterreifenpflicht des Paragrafen 2 Absatz 3a StVO zu nennen. Selbst unter Juristen besteht keine einheitliche Auslegung. Ein weiteres Beispiel sind die Schlupflöcher des immer noch bestehenden Führerscheintourismus. Nur unter der Voraussetzung, dass Vorschriften verständlich, eindeutig formuliert, allgemein bekannt und akzeptiert sind, können Vorschriften eine Wirkung entfalten.
Lasche Strafen: Deutschland befindet sich am untersten Ende der europäischen Sanktionsskala für sämtliche sicherheitsrelevante Delikte. Beispielsweise wird ein Handyverstoß in Deutschland mit 60 € geahndet, in drei anderen europäischen Staaten hingegen mit 200 €. Auf diese Weise werden derartige Verstöße zu Kavaliersdelikten herabgewürdigt. Auch steht der Opferschutz bei Staatsanwälten und Strafrichtern nicht im Vordergrund. So kann es vorkommen, dass die Täter bei fahrlässigen Tötungen im Straßenverkehr oft nur einen Strafbefehl erhalten, ohne in einer Hauptverhandlung Rede und Antwort stehen zu müssen oder sich öffentlich entschuldigen zu dürfen.
Fehlende Halterhaftung: In einigen europäischen Ländern gibt es die Halterhaftung. Gegen diese gibt es jedoch seit vielen Jahren verfassungsrechtliche Bedenken, weil man der Auffassung ist, nur beweissicher überführte Fahrzeugführer dürften bestraft werden und nicht etwa die Halter von Fahrzeugen, die womöglich unschuldig sind, weil sie ihr Fahrzeug verliehen haben und selbst nicht gefahren sind. Hinzu kommen bei der zumeist erfolglosen Ermittlung von Fahrzeugführern erhebliche Verfahrenskosten, die der Steuerzahler zu tragen hat. Selbst aus rechtlicher Sicht steht einer echten Halterhaftung nichts entgegen, denn selbst in Deutschland kann es sich bei Ordnungswidrigkeiten anders als bei Straftaten nicht um den Schuldbegriff drehen, sondern es geht lediglich um die ordnungsrechtliche Verantwortung. Aufgrund der fehlenden Halterhaftung wird viel zu häufig niemand bestraft. Dem steht allerdings das widerstreitende Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit entgegen, dessen Schutz nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts das gesamte staatliche Handeln unterzuordnen ist. Zu fordern wäre daher, dass der Halter eines Fahrzeugs bei einem Verkehrsverstoß, der mit seinem Auto begangen wurde, nicht nur über den Verkehrsverstoß informiert wird, sondern auch die Verfahrenskosten zu tragen hätte. Auf diese Weise erhält er die Chance nicht nur über gefährliches Verhalten im Straßenverkehr nachzudenken, sondern auch darüber, wem er sein Auto verleiht.
Zu geringe Kontrolldichte: Es ist festzustellen, dass die Kontrolldichte aufgrund von Personaleinsparungen bei nahezu allen Verkehrsdelikten und in fast allen deutschen Bundesländern immer mehr abnimmt. Entsprechend bleiben Delikte millionenfach unentdeckt. Dadurch entfallen wertvolle Rückmeldungen für Fahrzeugführer und Fußgänger, die aus der staatlich unterlassenen Reaktion auf ihr Fehlverhalten nicht lernen können.
Die Arbeit der Bußgeldstellen: Die Bußgeldstellen liegen in der Verantwortung der Kommunen. Dort scheinen noch nicht alle Landräte und Oberbürgermeister begriffen zu haben, dass es bei dem Arbeitsgegenstand der Verkehrsbehörden, von denen die Bußgeldstelle nur eine ist, direkt um die Lebensqualität der ihnen anvertrauten Bürger geht. Bußgeldbehörden haben noch große Verbesserungspotentiale hinsichtlich der Verkehrssicherheit. So könnten sie deutlich konsequenter Fahrverbote und Fahrtenbücher anordnen. Außerdem haben sich zentrale Bußgeldstellen für ein ganzes Bundesland bewährt. Abgesehen von Personaleinsparungen arbeiten zentrale Bußgeldstellen wesentlich effizienter als mehrere kommunale Bußgeldstellen. Auch haben zentrale Bußgeldstellen in der Regel einen differenzierteren Erfahrungsschatz und einer damit verbundenen größeren Durchsetzungsfähigkeit vor Gericht.
Veraltetes Unfallursachenverzeichnis: Das heutige noch gültige Unfallursachenverzeichnis aus dem Jahr 1975 ist schon lange nicht mehr zeitgemäß und bedarf dringend der Überarbeitung durch die Ministerien von Bund und Ländern. Allerdings stehen die zuständigen Minister sowie die Ministerialbürokratie einer Einigung im Weg.
Quelle: DVR-report 4/2016
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